Es ist Premierenabend an diesem 12. Oktober. Erstmals wird auf dem „Harbour Front Literaturfestival“ ein Kochbuch vorgestellt. „Vierundzwanzigsieben“ heißt das Buch. Autor ist TV-Koch und Bullerei-Besitzer Tim Mälzer. Mit ihm auf der Bühne sind der Musiker und Autor Thees Uhlmann, der am Kochbuch mitwirkte, und die Moderatorin Bettina Rust.
Vor dem Eingang der Eventlocation „Fabrik“ in Ottensen reihen sich die Menschen. Die Menschenschlange reicht kurz vor Eintritt um 18.30 Uhr bis auf den Bürgersteig der Bahrenfelder Straße. Das ist nicht immer so, wenn das Harbour Front Literaturfestival zu Lesungen einlädt. Die Kombi Mälzer/Uhlmann aber zieht. Die Massen strömen in die Halle, schnurstracks zu den vorderen Reihen. Bis kurz vor Beginn der Veranstaltung um 19 Uhr ist jeder Platz, auch die Stehplätze auf der Empore, belegt. Die Veranstaltung ist ausverkauft.
Das Licht wird gedämmt, auf einer großen Leinwand startet ein Film-Trailer, untermalt mit klassischer Musik. Erst erklingen Geigen, dann Mälzers Stimme: „In diesem Kochbuch sind 110 Rezepte drin. Immer wieder angepasst. Immer wieder neu geguckt. Immer wieder die Bedürfnisse. Die Rezepte sind gemacht für Menschen zu Hause. Mir ist wichtig, dass du dich durch das Rezept inspirieren lässt.“ Man sieht Mälzer in irgendwelchen Fluren, in der Küche, während der Produktion des Buches. Schnitt: Ein Porzellan fällt hin, zerspringt, die Musik verstummt. Schnitt. Mälzer betritt mit dunklem T-Shirt und schwarz-weiß gestreifter Schürze einen Fischladen, kauft einen Fisch, ordert einen „Lumpen Lachs“. Nun ertönt Rockmusik. Es folgen Bilder aus der Küche, von den Gerichten und von einzelnen Seiten aus dem Buch. Es wirkt wie eine Vorwegnahme des heutigen Abends: Klassik trifft Rock im Film-Trailer. Literatur trifft Mälzer in der Fabrik.
Kurz darauf betreten Mälzer und Rust die Bühne, setzen sich auf zwei der drei Sessel, die in der Mitte der Bühne platziert sind. Im Hintergrund ist eine kleine Küche aufgebaut, aus einem Topf dampft es. Mälzer übernimmt das Wort – und gibt damit direkt die Richtung des gesamten Abends vor. Es wird chaotisch, unterhaltsam, amüsant.
Mälzer scheint ein wenig perplex, Teil des Literaturfestivals zu sein: „Ich beim Literaturfestival! Wer hätte das gedacht?“ Mälzer fährt fort: „1990, Deutsch-Abi, mündlich glatte fünf – und auch nur mit viel Einsatz meines Vertrauenslehrers. Und jetzt sitze ich hier im Rahmen eines Literaturfestivals, bin auf der Frankfurter Buchmesse, und mach ’ne Lesung. Geil, richtig geil.“ Bettina Rust, Moderatorin und Podcast-Host von „Toast Hawaii“ grätscht hinein: „Darum hab ich jetzt Texte von Adorno rausgesucht, zu denen du bitte Stellung beziehst …“. Mälzer: „Wer auch immer das ist! Für mich klingt es wie ein Pornodarsteller.“ Rust: „Jaaa, es kommt darauf an, wie man es interpretiert.“
Mälzer’s Kindheitserinnerungen in der „Fabrik“
Solche verbalen Schlagabtausche dominieren den Abend und sorgen für viele Lacher im Publikum und auf der Bühne. „Das hier wird natürlich keine klassische Lesung“, kündigt Rust gleich zu Beginn an. Sie kennt Mälzer bereits aus anderen Formaten und hat mit ihm zusammengearbeitet. Vielleicht schafft sie es gerade deswegen, mit Leichtigkeit, Souveränität und Humor ihre beiden Interviewpartner zumindest stellenweise in Schach zu halten. Mälzer schwärmt von Kindheitserinnerungen in der „Fabrik“, berichtet von Spaghetti Bolognese, von „echter“ Spezi und weißen Schaumstoff-Mäusen. Letztere spendiert er auch den Gästen im Publikum. Zahlreiche Plastikboxen mit Schaumstoff-Mäusen werden durch die Reihen gereicht. Wenig später betritt Thees Uhlmann mit Gitarre die Bühne, begrüßt von lautstarkem Applaus und stimmt das Lied „Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluß hinauf“ an. Das Publikum singt lautstark mit.
Der Song ist vorbei, Uhlmann setzt sich auf den freien Platz neben Mälzer. Die beiden, so erzählen sie, kennen sich seit der „Fußballweltmeisterschaft für Kinder und Jugendliche auf St. Pauli“ 2006. Zwischen ihnen habe es direkt gepasst. Was auch daran läge, dass sie beide Landeier sind. Mälzer kommt aus Egenbüttel bei Pinneberg, Uhlmann aus Hemmoor zwischen Bremerhaven und Hamburg. Neben der ländlichen Herkunft verbinde sie die Begeisterung für Menschen, die Freude an der Beobachtung, der Humor – und die Liebe zum Normalen, so Mälzer. Die Chemie zwischen den beiden stimmt. Das ist den gesamten Abend zu spüren. Sie umarmen sich, unterhalten sich, unterbrechen sich.
Eine halbe Stunde vergeht mit diesem launigen Gequatsche, ehe es um das neue Kochbuch geht. Irgendwann sei ihm der Wunsch gekommen, dass Uhlmann Texte für das Kochbuch schreibt, erzählt Mälzer. „Thees hat mal was Wunderschönes über die Bullerei geschrieben, für ein Stadtmagazin.“ Mit dem Stadtmagazin meint Mälzer die SZENE HAMBURG. Dann fällt das zentrale Wort des Abends: „Lumump“. Mit Lumump beschreibt Mälzer eine „undefinierte Masse“, wie zum Beispiel Hackfleisch. Und im Prinzip lässt sich auch dieser Abend so beschreiben: Lumump im positivsten Sinne.
Schließlich wird auch gelesen. Uhlmann beginnt mit dem ersten Kapitel: Frühstück. „Eine der ersten Erinnerungen meines Leben ist, wie ich mit meinem Vater am Wochenende in einem Opel Rekord zum anderen Ende Hemmoors gefahren bin, weil dort die Brötchen am besten waren …“. Weitere Zeilen und einige Schmunzler folgen, dann nimmt Uhlmann wieder Platz. Es folgen Gespräche über eingemachte Marmelade, Quitten und Miso. Letzteres bezeichnet Mälzer als die „Maggie-Soße des Feuilleton“. Heute wolle man zu viel beim Kochen, sagt Mälzer. Alles würde auf den ersten Löffel gekocht. Bei Mälzer sei das eher wie bei der klassischen Musik. Der erste Löffel sei okay, der Geschmack baue sich nach und nach auf. „Deshalb versuche ich in den Rezepten auf ganz viele Aromen zu verzichten, ohne aber den Reich-Ranicki der Kulinarik zu machen. Also ich bin noch nicht verbittert. Und ich bin auch noch nicht sarkastisch und noch nicht so richtig alt“, sagt Mälzer.
„Hamburg ist die beste kulinarische Stadt“
Herausschmecken würde Mälzer ohnehin wenig, verrät er. Bei der TV-Show „Kitchen Impossible“, bei der er Gerichte nach Geschmack nachkochen muss, verlasse er sich daher auf Klischees. Köche seien eitel, aber schnell zu entlarven. In seinem Kochbuch setzt Mälzer auf Reduktion: „Ich will Rezepte machen, ich will Geschmäcker anbieten, die von jedem umzusetzen sind, ohne wirklich großartig ein Schweißausbruch zu kriegen“, sagt er. Eines seiner Lieblingsrezepte, Nudeln mit Tomatensoße, bereitet er auch an diesem Abend zu. Mit frisch geriebener Tomate, Salz und Zucker. So einfach kann kochen sein. Eine Portion genießt die Moderatorin, und auch das Publikum darf probieren. Uhlmann liest aus dem nächsten Kapitel : Der Italiener um die Ecke. Dann lobt Mälzer die Gastroszene der Stadt: „Hamburg ist die beste kulinarische Stadt.“ Es gebe keine Stadt in Deutschland, die so gute Restaurants der zweiten Reihe hat. „Es ist unfassbar, was wir in Hamburg für eine Qualität haben und auch schon immer hatten. Schon damals: Lilienthal, Nil, solche Restaurants. Ich zähle auch die Bullerei inzwischen dazu.“ Das Publikum lacht. „Keine Angst, ich koche da ja nicht.“ Das Publikum lacht noch lauter. Einige Minuten später steht Mälzer auf, geht zur Küchenzeile hinter sich und bereitet das nächste Gericht zu.
Mittlerweile sind mehr als anderthalb Stunden vergangen, was einem gar nicht so vorkommt. Uhlmann liest ein weiteres Kapitel, das letzte des Abends. Es geht um Nudeln. Zum Ende des Abends bekommt Mälzer noch ein Ständchen gesungen, das Uhlmann ihm zu seinem 50. Geburtstag vor zwei Jahren widmete. „Darf ich dazu etwas erzählen“, fragt Mälzer bevor es losgeht. Es ist eine rhetorische Frage. „Ich hab meinen 50. Geburtstag gefeiert. Und ich bin ’ne Feiersau. Ich bin eigentlich die Reinkarnation eines jeden russischen Oligarchen. Ich würde so miese Feten feiern, wenn ich es mir leisten könnte. Ich würde jeden Weltstar einfliegen lassen, Tauben vom Himmel regnen lassen, in Champagner baden lassen. Ich liebe Geburtstag. Eigentlich hatte ich den Bürgermeister eingeplant, Spielmannszug, Alsterfeuerwerk am Jungfernstieg. 14 Tage sollte das Ganze gehen, am Stück. Und dann kam Corona!“ Am Ende, so erzählt er, feierte er allein, betrunken, und „fürchterlich traurig“, in der „Guten Botschaft“ und holte sich das Internet dazu. „Dann kam Thees und hat mich emotional komplett ausm Kessel gehauen. Das, was da jetzt kommt ist so wunder-, wunder-, wunder-, wunderschön formuliert, wie es nur ein Thees Uhlmann kann und dafür bin ich sehr, sehr dankbar.“ Das Publikum klatscht. Uhlmann greift sich die Gitarre, hängt sie sich um und kündigt das Lied an: „Wenn du so ein guter Koch bist, warum hab ich Durst, wenn ich dich seh?“ Er beginnt zu singen. Das Publikum ist verzückt. Beste Zeile: „Ich trinke lieber mit dir Wasser als mit anderen ein Bier.“
Das Lied ist ausgeklungen. Es folgt eine lange Umarmung. Mälzer schließt den Abend ab: „Einen Tiefgang haben wir heute nicht gehabt, aber ich glaube, wir haben das gemacht, was ein so schöner Abend machen sollte: Wir haben geplaudert, Anekdoten erzählt, gekocht, getrunken und Musik gehört und viel gelacht.“ Das Publikum klatscht. Ein literarischer Abend war es in der Tat nicht, aber wie der Veranstalter vorab schrieb: „Er ist ein waschechter Hamburger und macht tolle Bücher, also laden wir ihn doch mal zum Festival ein, um ihn ganz nah zu erleben und ihm jede Menge Fragen rund ums Kochen zu stellen.“ Literatur trifft Gastronomie.
Ein „Lumumper-Abend“ geht zu Ende. Zufriedene, grinsende, gut unterhaltene Gesichter verlassen die Fabrik. Mälzer sitzt noch geduldig am Tisch, signiert einige Kochbücher. Trotz Medienpräsenz, Bekanntheit und Promi-Status, hat er die Nähe zum Publikum und den „normalen“ Menschen nicht verloren.