Sarah Wiener, Sie haben eine beeindruckende Karriere hinter sich: von der Gastro über das Fernsehen bis in die Politik und Ihre Stiftung. Wie hat Ihr Werdegang Sie zu Ihrer heutigen Arbeit und Haltung als Aktivistin für nachhaltige Ernährung geführt?
Sarah Wiener: Das war eher ein leidenschaftlicher, intuitiver Weg. Das Interesse und die Beschäftigung mit Essen, Lebensmitteln, Anbau und allem, was dazu gehört, zieht sich als roter Faden durch mein Leben.
Gab es da bestimmte Schlüsselerlebnisse, die Sie geprägt haben?
Schon sehr früh hatte ich ein Misstrauen zu industriellen Nahrungsmitteln. Mit acht Jahren habe ich aufgehört Cola zu trinken, da es damals das Gerücht gab, es würde die Leber zersetzen. Auch der Hormonfleisch-Skandal hat mich schon früh betroffen gemacht. Dass man Tiere, also unsere Mitgeschöpfe, quält, indem man diese statt wesensgerechter Fütterung nur zur Gewinnmaximierung mit Hormonen versetzt. Das hat mich zutiefst empört. Auch diese elendig langen Zutatenlisten in unseren Nahrungsmitteln. Die machen uns nicht gesünder und glücklicher, sondern maximieren das Geld von einigen wenigen – die Industrie, die möglichst immer gleichmäßig, billig und viel produzieren möchte, hat andere Interessen als alle Essenden.
Sie haben mit 13 Jahren freiwillig einen Kochkurs belegt. Was hat Sie dazu bewegt?
Das Besondere daran war, dass ich den Kochkurs gemacht habe, obwohl ich die Lehrerin schon vorher nicht mochte und sie mich auch nicht. Und dennoch war ich so interessiert daran, etwas über das Kochen zu lernen. Da war dieses Bedürfnis zu verstehen: Wie macht man einen Nusskuchen oder wie kocht man Spaghetti mit Tomatensoße? Denn mein erster Versuch, rohe Spaghetti in eine heiße Pfanne zu kippen, ist kläglich gescheitert. (lacht)
Sie haben sehr viele Projekte realisiert. Woher nehmen Sie die Energie und Inspiration für Ihre vielfältigen Aktivitäten?
Ich bin jemand, der impulsiv und intuitiv handelt. Und wenn ich eine Idee habe, die ich für wichtig halte, versuche ich sie umzusetzen. Ich komme aus einer Künstlerfamilie – es gab keine klassischen Erwartungshaltungen für meinen Lebenslauf. Ich war wirklich frei, das zu machen und dem nachzugehen, was ich wollte. Und da hat mir das Kochen als sinnlicher Akt und die damit verbundene Kreativität besonders Spaß gemacht. Und natürlich das Essen mit anderen.
Ihre Stiftung wurde 2007 gegründet, um Kindern das Kochen beizubringen und ihnen bewusste Ernährung zu vermitteln. Was hat Sie dazu inspiriert, diese Mission ins Leben zu rufen?
Die Stiftungsgründung war eine logische und positive Folge meiner Wut auf die Nahrungsmittelindustrie. Und die Erkenntnis, dass man sich nur mit dem Selber-Kochen gegen schwerst verarbeitete Nahrungsmittel stemmen kann. Nur wer selber kocht, kann frei wählen und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen. Ich wollte Menschen das Kochen beibringen, damit sie selbst entscheiden können, was sie essen. Als ich mir überlegt habe, welche Gruppe sinnvoll und wichtig sein kann, kam ich schnell auf die Kinder – die werden ja später selbst Eltern sein. Der Geschmack prägt sich hauptsächlich in den ersten 1000 Tagen, also sehr, sehr früh. Ich wollte alle Kinder erreichen: Nämlich an öffentlichen Bildungseinrichtungen. Zum Glück haben wir ja Schulpflicht.
Wenn Kinder minderwertig essen und nie lernen wie eine richtige Hühnersuppe schmeckt, dann kann das ihr Geschmacksgedächtnis verschlammen
Warum ist frühzeitige Ernährungsbildung so wichtig?
Wegen der körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheit. Essen prägt uns und unsere Mitwelt. Wenn Kinder minderwertig essen und nie lernen, wie eine richtige Hühnersuppe schmeckt, dann kann das ihr Geschmacksgedächtnis verschlammen und ihre Körpersouveränität beeinflussen. Manche Erziehungsberechtigte sind überfordert und wissen selbst nicht, was gute, gesunde Ernährung ist. Deshalb ist das eine gesellschaftliche Aufgabe, der wir uns annehmen sollten, um die Schere der sozialen Ungerechtigkeiten zu schließen und den Kindern den bestmöglichen Start für ihr gesamtes Leben zu ermöglichen. Essen ist die Basis unserer Existenz, unserer Identität und unserer Kultur.
Sie betonen oft, wie wichtig Selbstwirksamkeit ist. Was bedeutet dieser Begriff im Kontext Ihrer Arbeit mit Kindern und Fachkräften?
Wenn Menschen merken, dass sie mit wenigen Grundnahrungsmitteln selber kochen, selber kreativ sein, selber beurteilen können, ob es ihnen schmeckt oder nicht, dann ist es eine lebensverändernde Erfahrung. Dadurch erlangen sie die Autonomie über den eigenen Körper zurück. Wenn immer andere entscheiden, was gegessen wird, dann schmälert das ihr Selbstbewusstsein und auch ihre Urteilskraft.
Gibt es eine besondere Geschichte oder ein Erlebnis aus der Arbeit Ihrer Stiftung, das Sie persönlich berührt hat?
Es gibt viele Geschichten, die mich berühren. Sowohl im Positiven als auch im Negativen. Ich habe einen fünfjährigen Jungen kennengelernt, der noch nie eine rohe Karotte gegessen hat. Stattdessen bekam er jeden Tag einen Euro und kaufte sich davon beim Discounter trockenen Kuchenboden und eine Dose Eistee. Es brauchte drei Kochstunden, bis er sich getraut hat, in eine unverarbeitete Karotte zu beißen. Ich erinnere mich auch an ein junges Mädchen, die sich vor einem Apfel am Apfelbaum ekelte, weil sie nur Obst und Gemüse in Plastik verpackt kannte. Aber genauso bin ich begeistert, wenn ich sehe, dass kleine Kinder keine Scheu haben, Rinderzunge oder gedämpften Fisch zu essen. Es ist so schön zu sehen, wenn sie ihr selbst kreiertes Werk bestaunen, mit Genuss essen und stolz auf sich sind.
Wenn Menschen merken, dass sie mit wenigen Grundnahrungsmitteln selber kochen, selber kreativ sein, selber beurteilen können, ob es ihnen schmeckt oder nicht, dann ist es eine lebensverändernde Erfahrung
Ihre Stiftung wurde 2023 von der UNESCO-Kommission für beispielhaftes Engagement in der Bildung für nachhaltige Entwicklung ausgezeichnet. Was bedeutet diese Anerkennung für Sie und Ihre Arbeit?
Für mich ist es in erster Linie ein Preis für mein Stiftungs-Team und für all diejenigen, die unsere Stiftung unterstützen – sei es mit praktischer Ernährungsbildung oder finanziell. Das Engagement von unseren Genussbotschaftern, von den Pädagoginnen und allen Erziehungsbeauftragten – mit was für einem großen Einsatz diese Menschen Energie und auch Zeit investieren, um das umzusetzen, was meine Stiftung ausgearbeitet hat. Man kann viele tolle Ideen haben. Aber wenn es keine Leute gibt, die sie in die Tat umsetzen, dann ist die beste Idee nichts wert.
Regionale und saisonale Produkte spielen eine zentrale Rolle beim Thema nachhaltige Ernährung. Wie kann die Gastronomie diesen Ansatz stärker fördern?
Es geht nicht nur um regionale und saisonale Produkte, sondern es geht auch um ökologisch produzierte Produkte. Zudem haben auch regionale Tiere nicht immer die Möglichkeit vor Ort ihre Grundbedürfnisse auszuleben. Deswegen würde ich den Begriff noch erweitern. Um es verständlicher zu machen: Es geht um vernünftige Ernährung – etwas, was unseren Kindern und unseren Kindeskindern auch noch eine lebenswerte Zukunft ermöglicht. Wir können nicht sagen „für uns heute alles und für morgen bleibt dann nichts mehr“. Wir sollten ökologische Kreisläufe schließen, damit wir länger Freude an der Welt haben und unsere Nachkommen auch. Wir sind ein Teil der Natur und wenn wir die Natur stärken, stärken wir immer auch uns selbst.
Und wie sehen Sie die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit in Hamburgs Gastrolandschaft? Welche Verantwortung haben die Gastronomen im Allgemeinen?
Es gibt einen Systemfehler per se. Es fängt ja schon bei der Lehre an: Es muss hier schon ein Augenmerk auf die Themen wie Pestizide, Nachhaltigkeit, Tierwohl oder Vielfalt in den Grundprodukten gelegt werden. Auch haben wir schon länger ein Nachwuchsproblem. Nicht umsonst wird von Zukunftsforschern vorausgesagt, dass in zehn bis 15 Jahren der Beruf Koch und Köchin aussterben wird. Allerdings kann der Fokus auf frische, regionale und individuelle Küche auch ein Wettbewerbsvorteil sein. Die große Stärke ist, dass Menschen eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und nach dem Authentischen haben. Jeder Koch, der selber mit frischen Grundzutaten kocht, kann seinen Gästen Rede und Antwort stehen und so Vertrauen aufbauen. Das ist eine große Chance. Und im Hinblick auf die vielen Krisen wie Biodiversität, Klima und länderübergreifende Unsicherheiten macht uns die direkte Verbindung zu Produzenten, Bauern und zum Umland auch viel resilienter.
Die große Stärke ist, dass Menschen eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und nach dem Authentischen haben
Sie sind eine wichtige Stimme bei den Genuss-Guide-Nachhaltigkeitswochen. Was erhoffen Sie sich von dieser Veranstaltung für Hamburgs Gastro und welche Botschaften möchten Sie bei Ihrem Vortrag besonders hervorheben?
Zum Glück gibt es eine Menge sehr engagierter, hervorragender Köchinnen und Köche, die wir feiern sollten. Ich erwarte mir Unterstützung und mehr Aufmerksamkeit für die nachhaltige Gastro-Szene. Auch die Möglichkeit, Wissenslücken zu schließen und so ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir alle eine gesellschaftliche Veränderung brauchen. Kochen verbindet Menschen, ist also auch demokratie-stärkend. Es ist einer der wenigen Berufe, wo noch mit allen Sinnen gearbeitet wird und man sich mit Menschen auf liebevolle Weise verbinden kann. Ich möchte Gastronomen und Gastronominnen ermutigen, ihrem Handwerk und ihrer Kochkunst auf verantwortungsvolle Weise weiter nachzugehen, weil es am Ende allen Menschen zugutekommt.
Sie waren bis vor Kurzem im EU-Parlament aktiv. Welche Erkenntnisse haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?
Die Zeit beim Europaparlament war eine sehr spannende und intensive Erfahrung. Ich habe sehr viel darüber gelernt, wie Politik funktioniert. Und Politik passiert nicht im luftleeren Raum. Für echte Veränderungen braucht es immer eine unabhängige Mehrheit. Das ist ja auch die Schönheit an der Demokratie. Wir alle haben Einfluss und müssen nicht warten, bis sich die Politik bewegt. Bis dahin kann jeder Einzelne das richtige Handeln unterstützen und den richtigen Weg selbst einschlagen.
Und was wünschen Sie sich von Politik, Gesellschaft und Bildungssystem?
Ich beschäftige mich weniger mit Wünschen, sondern mit praktischem Tun. Ich versuche diesen Weg, den ich vor dreißig Jahren eingeschlagen habe, weiterzugehen. Es gibt viele Menschen, die so denken wie ich und die auch sehr viel Energie in die richtigen Maßnahmen investieren. Jeder soll da loslaufen, wo er gerade steht. Wenn jeder ein bisschen was tut, dann ändert auch der größte Dampfer seinen Kurs und fährt der Sonne entgegen.
Gibt es ein Lebensmotto oder eine Philosophie, die Sie bei ihrer Arbeit begleitet?
Es gibt einen Spruch, den ich sehr mag: Da wo meine Füße stehen, da bin ich.
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