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Interview mit Marco Müller

„Der Wald ist für uns eine ganz wichtige Inspiration“

Mit seiner innovativen und naturverbundenen Küche brachte Marco Müller das Rutz in Berlin an die gastronomische Spitze. An der Ostsee sprachen wir mit dem gebürtigen Potsdamer im Rahmen des 38. Schleswig-Holstein Gourmet Festivals über prägende Kindheitserinnerungen und Inspirationsquellen

23. Oktober 2024 von Alina Fedorova

3-Sternekoch Marco Müller kochte als Gastkoch in der Orangerie im Rahmen des Schleswig-Holstein Gourmet Festivals / ©S. Plaß
3-Sternekoch Marco Müller kochte als Gastkoch in der Orangerie im Rahmen des Schleswig-Holstein Gourmet Festivals / ©S. Plaß

Seit 20 Jahren ist Sternekoch und Produkt-Pionier Marco Müller Küchenchef im Rutz, welches er nach und nach bis zum Sterne-Olymp hob. Im Jahr 2020 wurde das Gourmetrestaurant als erstes und einziges 3-Sterne-Restaurant Berlins mit dem dritten Michelin-Stern ausgezeichnet, einen grünen Stern für besonders nachhaltige Gastronomie gab es obendrauf. Das Besondere: Anders als die meisten Sternerestaurants, die auf französische Haute Cuisine und internationale Einflüsse setzen, liegt Müllers Handschrift in der komplexen und zugleich kunstvollen Verarbeitung regionaler Produkte – aus den Wäldern, Wiesen und Feldern vor den Stadttoren Norddeutschlands.

Marco Müller, wie hat Ihre Reise in die Welt der Spitzengastronomie begonnen? Was hat Sie ursprünglich dazu inspiriert, Koch zu werden?

Ich habe schon immer gerne gegessen. Ich habe gerne gekocht. Und als Kind wollte ich schon immer wissen, wie man das, was es schon gab, besser machen kann. Ich möchte aus allem, was ich mache, das Beste herausholen. Ob beim Sport, beim Kochen oder auch bei meinen Kindern. Und parallel ist dann ein Beruf daraus geworden.

Können Sie noch mehr von den prägenden Erfahrungen aus Ihrer Kindheit erzählen?

Mittlerweile weiß ich, dass meine Wurzeln als Koch in meiner Kindheit liegen. Früher war mir das gar nicht so bewusst. Vor allem der Ort, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Im Sommer war ich bei meinen Großeltern auf dem Land. Später sind wir aus Potsdam raus aufs Land gezogen. Das war ein Ort, den ich sehr gemocht habe. Den Produktfanatismus habe ich wohl in die Wiege gelegt bekommen. Mein Opa pflanzte im Garten Gemüse an und bei den Nachbarn gab es die besten Eier und irgendeiner hatte Champignons im Keller. Ich hatte vorne den See, hinten den Garten. Und auf dem Weg zur Schule bin ich entweder an einem Maisfeld, an einem Roggenfeld, an einem Weizenfeld vorbeigekommen. 

Was macht regionale Produkte für Sie so spannend?

Als ich sechs war, bin ich mit meinem Vater über eine Wiese gelaufen. Da hat er mir erzählt, dass er als Kind das Aroma eines Grashalms mochte. Aber nicht den grünen verhärteten Teil, sondern die untere gelbe Spitze vom Schaft. Da habe ich das auch ausprobiert. Die schmeckt zwar nach Gras, aber die ist weich und hat zugleich eine leichte Süße. Das hat mich fasziniert. Im Nachgang habe ich mich durch die ganze Wiese da durchprobiert (lacht). Da waren Sachen, die waren lecker, aber auch Sachen, die geschmacklos oder bitter waren.

Vor der Wiese hatten wir auch ein Sägewerk. Und dieser Duft hat mich so eingefangen wie eine frisch gemähte Wiese. Irgendwann wusste ich genau, welches Holz gerade verarbeitet wird. Ob Buche oder Kiefer. Diese Erfahrung ist bei mir nachhaltig hängen geblieben. Das sind Aromen, die ich spannend finde. Für mich als Koch war es nachher die Challenge, die Gerüche, die mich so fasziniert haben, in Gerichten aufzubereiten. Wenn wir im Rutz über Regionalität reden, reden wir ja nicht über das, was in der Vergangenheit schon kultiviert wurde. Wir reden über regionale Produkte, die sonst gar nicht auf dem Schirm sind. So servieren wir heute ein Tatar vom Wild. Dazu haben wir aus der Pimpinelle, die bei uns wild wächst, ein Öl und eine Emulsion gemacht.

Wie würden Sie Ihre kulinarische Philosophie in wenigen Worten beschreiben?

Berlin ist eine spannende, internationale Stadt. Wir haben mittlerweile unfassbar tolle Restaurants, unterschiedliche Kulturen, die sich angesiedelt haben. Wenn Menschen auch von außerhalb zu uns essen kommen, sollen sie nachher wissen, welche Produkte und die damit verbundenen Aromen wir in der Region haben. Wir möchten, dass unsere Gäste von dieser geschmacklichen Reise durch unsere heimischen Produkte gefesselt werden. Und dafür schauen wir, dass wir die spannendsten Produkte so zubereiten, dass sie fast suchtartigen Essgenuss produzieren.

Wie entwickeln Sie neue Gerichte? Was ist Ihre Herangehensweise?

Wir sind das ganze Jahr damit beschäftigt, Gerichte auszuprobieren und mit Produkten zu experimentieren. Es gibt immer eine Zeit, wo wir diese auswerten und besprechen: Was haben wir und was wollen wir damit machen? Da sind Sachen dabei, die unfassbar spannend sind, aber auch welche, die überhaupt keinen Sinn machen. Das sind aber Bausteine, die wir zu einem späteren Zeitpunkt wieder herausholen. Das ist ein dauernd währender Prozess.

Heute haben wir einen Gang mit dabei, der dem Thema Bitterstoffe gewidmet ist. Wir wollen damit zeigen, dass man mit den Bittertönen, die wir bei uns in der Natur finden, ein wahnsinnig schönes Gericht machen kann. Die gelbe Bete aus dem Spreewald haben wir im Salzmantel gebacken und dann für 24 Stunden ruhen lassen, damit sich die Süße entfaltet und das Salz einziehen kann. Obendrauf kommt ein Granit aus rotem Chicorée, den wir entsaftet und mit Stickstoff gefrostet haben. Das sorgt dann für diese leichte, zart eingebundene Bitternis.

Die gelbe Bete aus dem Spreewald wird im Salzteig gebacken, um anschließend 24 Stunden lang zu ruhen. Bittere Aromen vom roten Chicorée runden das Gericht rund um den Stockfisch ab /©Rutz / Pia Negri
Die gelbe Bete aus dem Spreewald wird im Salzteig gebacken, um anschließend 24 Stunden lang zu ruhen. Bittere Aromen vom roten Chicorée runden das Gericht rund um den Stockfisch ab /©Rutz / Pia Negri

Gibt es spezielle Rituale oder Inspirationsquellen, die ihre Kreativität beflügeln?

Der Wald ist für uns eine ganz wichtige Inspiration an sich. Der Duft, die Produkte, die hier wachsen. Auch die Blätter, die Nadeln, Blüten, Wildkräuter und teilweise auch Flechten. Ich bin mittlerweile an den Stadtrand gezogen, hier fühle ich mich wohler als in der Stadt. Ich wache auf, habe Bäume vor meinem Fenster. Ich ziehe mir meine Sportklamotten an und direkt 50 Meter neben der Eingangstür ist ein Naturschutzgebiet, wo ich meine Jogging-Runden drehe. Je nach Jahreszeit schreibt mir die Natur sozusagen vor, welche Runde ich laufen werde. Um zu sehen, was gerade wächst und blüht.

Wir nutzen Produkte aus dem Umland. Dazu gehört für uns auch Schleswig-Holstein

Was bedeutet es für Sie persönlich, das beste Restaurant Deutschlands zu führen? Und wie empfinden Sie den Druck, der mit diesem Titel verbunden ist?

Den Druck, wenn es überhaupt Druck bei uns gibt, den machen wir uns selber. Wir haben das Kochen von den internationalen Küchen gelernt. Frankreich, Italien, Japan. Jeder hat seine eigenen Produkte und Esskultur, die alt und gereift ist. Die Esskultur in Deutschland hat allerdings wenig Identität. Ich fand es spannend, diesen Weg der Landesküche mit deutschen Produkten zu gehen und mittlerweile haben wir unseren eigenen Platz geschaffen. Wir haben uns damals frei gemacht von Bewertungen und sind sehr stolz darauf, dass gerade unsere Küche, die nicht international geprägt ist, das Restaurant mit höchster Auszeichnung sein darf.

Das Schleswig-Holstein Gourmet Festival bringt hochkarätige Köche zusammen. Was macht für Sie den Reiz aus, an einem solchen Festival mitzumachen?

Ich mag den Norden. Ich mag die Region und die Leute hier. Die Wurzeln väterlicherseits sind aus dem Norden. Auch meine Frau ist in Schleswig-Holstein geboren. Ich mag die Ruhe hier, gerade wenn man aus Berlin kommt. Wir sind heute zum dritten Mal in der Orangerie und durch das Schleswig-Holstein Gourmet Festival konnten wir als Restaurant unseren Horizont erweitern. Wir haben hier tolle Produzenten dazugewonnen, die mittlerweile für uns arbeiten. Und auch haben wir Gäste dazu gewonnen, die aus Schleswig-Holstein anreisen. Jedes Mal starten wir mit dem Festival unseren Familienurlaub. Und dadurch, dass ich Kochen nicht als Arbeit ansehe, starte ich mit meinem Lieblingshobby.

Gibt es bestimmte regionale Produkte aus Schleswig-Holstein, die Sie bei diesem Event besonders hervorheben möchten oder die Sie inspiriert haben?

Weil mir Berlin immer noch eine zu große Stadt ist, mit zu vielen Straßen, nutzen wir hauptsächlich Produkte aus dem Umland. Dazu gehört für uns auch Schleswig-Holstein. Unsere Kartoffeln kommen von hier. Wir haben einen Bauern, der unfassbar tolle Karotten anpflanzt. Wir haben bis vor Kurzem über 20 Jahre lang unser Lammfleisch von hier bekommen. Wir greifen auf viele Produkte aus dieser Region für das Rutz zurück, auch wenn sie heute nicht unmittelbar Teil des heutigen Menüs sind.

Regionalität ist immer weiter im Vormarsch

Haben Sie das heutige 5-Gänge-Menü zusammen mit Lutz Niemann konzipiert oder hat jeder seine eigene Bühne?

Ich bin der Meinung, dass Authentizität unfassbar wichtig ist. Und wenn sich der eine nach dem anderen richten muss, verliert man die. Die Orangerie hat andere Wurzeln, basierend auf einer wahnsinnig schönen klassischen französischen Küche. Lutz Niemann und sein Küchenchef Thomas Lemke haben auch sehr spannende moderne und regionale Ansätze, die wir persönlich auch suchen. Am Ende des Abends ist es das Wichtigste, dass die Gäste diese Authentizität der Gerichte und die Perfektion darin spüren. Und das kriegen wir am besten hin, wenn wir schauen, dass wir unsere Gerichte nicht verändern, sondern die Perfektion anstreben, die wir so gelernt haben.

Die Gastronomieszene entwickelt sich ständig weiter. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Trends, die die Zukunft der Spitzengastronomie prägen werden?

Ich sehe zwischen Trends und Entwicklungen riesengroße Unterschiede. Trends verschwinden, Entwicklungen bleiben. Was ich gerade sehe ist, dass die Regionalität immer weiter im Vormarsch ist. Dass wir nicht nur die internationale Küche hervorheben, sondern dieser regionale Bezug immer mehr Einzug hält. Parallel sehe ich auch die Entwicklung in der Wahrnehmung der Top-Gastronomie. Diese wird nicht mehr als stocksteif und selbstgefällig angesehen, sondern ist lockerer und gästeorientierter geworden. Auch zugänglicher für ein junges Publikum. Ich glaube, das tut der Branche extrem gut.

Was essen Sie am liebsten, wenn Sie selbst einmal nicht kochen müssen?

Ganz ehrlich? Wenn ich frei habe, freue ich mich jedes Mal auf frisch gebackenes Sauerteigbrot mit guter, gesalzener Butter. Liebe ich!

Das Küchenteam vom Rutz und der Orangerie sorgte für einen kulinarischen Abend der Spitzenklasse. In der Mitte der langjährige Küchenchef der Orangerie Thomas Lemke, rechts daneben Küchenchef Dennis Quetsch aus dem Rutz / ©Rutz / Pia Negri
Das Küchenteam vom Rutz und der Orangerie sorgte für einen kulinarischen Abend der Spitzenklasse. In der Mitte der langjährige Küchenchef der Orangerie Thomas Lemke, rechts daneben Küchenchef Dennis Quetsch aus dem Rutz / ©Rutz / Pia Negri
Die Orangerie servierte französische Küche kombiniert mit japanischen Aromen / ©Rutz / Pia Negri
Die Orangerie servierte französische Küche kombiniert mit japanischen Aromen / ©Rutz / Pia Negri
Für einen sternewürdigen Abschluss sorgte wieder Taro Bünemann mit kunstvollen Desserts / ©Rutz / Pia Negri
Für einen sternewürdigen Abschluss sorgte wieder Taro Bünemann mit kunstvollen Desserts / ©Rutz / Pia Negri
Marco Müller gut gelaunt mit seinem Küchenchef und rechter Hand Dennis Quetsch in der Orangerie / ©Rutz / Pia Negri
Marco Müller gut gelaunt mit seinem Küchenchef und rechter Hand Dennis Quetsch in der Orangerie / ©Rutz / Pia Negri
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Ob Phở Bo oder Ramen: Asiatische Nudelsuppen könnte Alina Fedorova zu jeder Jahres- und Tageszeit schlürfen. Lange Zeit in der Gastro tätig, hat sie Tablett gegen Tastatur getauscht und schreibt jetzt über Hamburgs Gastro-Szene. Oft steht sie selbst hinterm Herd und kocht Rezepte aus aller Welt.