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Großmarkt Hamburg: 60 Jahre in Hammerbrook

Eine Nacht auf dem Großmarkt

Auf dem Hamburger Großmarkt werden jährlich 1,5 Millionen Tonnen Waren umgeschlagen. Der Handel findet von den späten Abendstunden bis zum Morgengrauen statt. Marktaufsicht Jan Ader sorgt für einen reibungslosen Ablauf

31. August 2022

Jan Ader sorgt seit 2012 für Ordnung auf dem Hamburger Großmarkt / ©Johanna Zobel
Jan Ader sorgt seit 2012 für Ordnung auf dem Hamburger Großmarkt / ©Johanna Zobel

Hamburg-Hammerbrook, 2 Uhr morgens – der Himmel ist in ein tiefes Schwarz getaucht, ein betriebsames Rauschen schallt aus der Großmarkthalle und paart sich mit dem Poltern von vollgepackten Rollwagen, fahrenden Staplern und lautem Möwengeschrei. Um diese Zeit beginnt der Handel auf dem Hamburger Großmarkt. Aus den großen, geöffneten Toren der Markthalle leuchtet es in die Dunkelheit. Im Inneren verbirgt sich das wuselige Treiben des Hamburger Handels mit nahezu allem, was das Herz begehrt: kistenweise regionales Obst und Gemüse, aber auch exotisches aus aller Welt. Strahlend grüne Limetten stehen neben Kiwis, Ananas und Bohnen. Dicht an dicht drängen sich hier die Stände der unterschiedlichen Händler auf den von ihnen angemieteten Flächen. Einzig die Erzeuger aus dem Hamburger Umland befinden sich an einem gesonderten Standort: auf der Erzeugerfläche im Gang A. Den Gang entlang stapeln sich links und rechts gelbe Pfandkisten der Erzeugergemeinschaft, einem Zusammenschluss von 110 Erzeugern aus der Metropolregion Hamburg. Die Pfandkisten kennzeichnen die regionale Herkunft der Produkte. Hier herrscht reger Handel mit Kartoffeln, Salaten, Kräutern, Äpfeln und saisonalen Produkten wie Rhabarber und Mairüben. Auch Tobias Haack bietet seine Waren an. Er fährt schon seit über 30 Jahren zum Markt, anfangs mit seinem Vater. Der Großmarkt sei für ihn wie eine große Familie. Er kenne diesen in- und auswendig, doch könne man hier schnell die Orientierung verlieren: „Wenn ich neue Mitarbeiter habe, brauchen die so ein bis zwei Monate, bis sie sich zurechtfinden“, sagt er lachend. Kein Wunder, denn auf dem Großmarkt bieten rund 350 Marktfirmen ihre Ware an. Die elf Gänge der Markthalle sind zwar alphabetisch sortiert, aber auf den knapp 40.000 Quadratmetern im Erdgeschoss kann das schon verwirrend sein. Irgendwie sieht auch alles gleich aus: viele hochgestapelte Kisten mit Obst und Gemüse und viele geschäftige Menschen. Lediglich die bunt bedruckten Schilder oberhalb der Stände geben ein wenig Orientierung.

Im Gang A befindet sich die Erzeugerfläche / ©Johanna Zobel
Im Gang A befindet sich die Erzeugerfläche / ©Johanna Zobel

Der Aufpasser vom Großmarkt

Nur wenige Meter von Tobias Haacks Stand entfernt, befindet sich der Aufgang zu einer der beiden in der Halle befindlichen Brücken. Einige Treppenstufen hinauf bietet sich ein imposanter Blick auf die riesige Markthalle. An dem einen Ende der Brücke, im Gang hinter einer massiven Glastür, liegt das Büro der Marktaufsicht. Statt der lauten Geräuschkulisse herrscht hier eine entspannte Stille, die nur von dem Quietschen der sich schließenden Tür durchbrochen wird. In dem hellen, minimalistisch eingerichteten Büro kümmert sich Jan Ader von der Marktaufsicht um das Niederschreiben von Verkehrsunfällen und Schadensmeldungen. Sein marineblauer Pullover mit angesticktem Hamburg-Wappen auf der Schulter kennzeichnet seine Festanstellung bei dem städtischen Großmarkt und berechtigt ihn außerdem, bei Regelverstößen gegen die Marktordnung Strafgelder zu kassieren. Die Marktaufsicht sorgt für Ordnung in der Halle. Ader ist die meiste Zeit auf dem Großmarktgelände, außerhalb seines Büros, anzutreffen. Dann schaut er, ob alles läuft, ob es Unfälle oder Schäden gab. Bei seinen Rundgängen muss er stets erreichbar sein. Ader tippt in seinen Rechner, packt dann ein paar Dokumente zusammen und zieht sich seine neongelbe Warnjacke über. Bevor es Richtung Markthalle geht, braucht er noch sein Handy. Er greift zum Hörer seines Festnetzapparates, tippt seine eigene Nummer ein und eine Melodie erklingt. „Ach, da ist es!“

Unzählige Gabelstapler fahren kreuz und quer mit ihren Paletten umher, Kisten versperren die Wege, Arbeiter ziehen ihre Hubwagen über die Kreuzungen.

Wachsame Augen

Kurz nach 2 Uhr. Um diese Zeit holen sich viele Arbeiter eine Currywurst, eine Portion Fritten oder ein belegtes Brötchen in dem Großmarkt-Imbiss von Oliver Rehr. Auch für Jan Ader ist schon Halbzeit, auf den Imbiss-Snack zwischendurch verzichtet er an diesem Tag jedoch. Seine Schicht beginnt um 22.30 Uhr und endet um 6.42 Uhr. Die krumme Uhrzeit hänge mit den Pausenregelungen zusammen. Bis dahin hat er bereits ein paar Schritte hinter sich. An einem normalen Tag lege er schon mal mehr als sieben Kilometer zurück. Längere Strecken bewältige er außerhalb der Halle mit dem Fahrrad. „In der Halle muss ich schieben“, erzählt Ader. Warum, wird beim Gang durch die Halle klar: unzählige Gabelstapler fahren kreuz und quer mit ihren Paletten umher, Kisten versperren die Wege, Arbeiter ziehen ihre Hubwagen über die Kreuzungen. Es wird gehupt, gerufen und geschnackt. Paletten knallen aufeinander. Es dröhnt, rattert und klappert. Die Kommissionierer der einzelnen Händler schleppen Kisten aus dem Kühlraum umher, bestücken die Stände und verpacken die bestellte Ware für die Einkäuferinnen und Einkäufer. Diese holen ihr Obst und Gemüse dann zum vereinbarten Zeitpunkt ab. Darunter meist Stammkunden, die die Qualität der Ware schätzen und sich darauf verlassen. An den Ständen ist ein Kommen und Gehen. Neben den Vorbestellungen suchen viele Einkäuferinnen und Einkäufer natürlich das Gewünschte direkt aus den Kisten aus. Dann kann das Obst und Gemüse auch beschnuppert werden. Ein Plausch ist dabei auch mit drin. In dem Trubel ist Jan Ader mit seiner gelben Warnjacke nicht zu übersehen.

Fehlalarm und Feuerwehr

Er begibt sich zu den Kühlräumen im Keller der Großmarkthalle – zum Temperatur-Check. Auf halbem Weg klingelt Aders Handy. Er geht ran: „Alarm?! Was für ein Alarm?“ Etwa eine Minute später erfolgt ein zweiter Anruf, der beruhigt: „Das war ein Fehlalarm von einem Händler.“ Dennoch kommt die Feuerwehr. „Die lassen sich nicht abwimmeln. Wenn die einen Alarm kriegen, dann fahren die los“, so Ader – und das auch gleich mit einem ganzen Einsatzzug: Zwei große Löschwagen und ein Einsatzwagen stehen vor einem separaten Gebäude außerhalb der Großmarkthalle. Für Ader kein seltenes Bild: „Das ist eigentlich unspektakulär. Sie kommen, steigen nicht mal richtig aus, dann geht der Einsatzleiter runter zur Brandmeldezentrale, schaut sich das an und dann fahren die wieder“, sagt Ader mit lockerer Stimme. Seit er 2012 auf dem Großmarkt beschäftigt ist, hat er nur einen richtigen Brand erlebt. Nach zehn Minuten rückt die Feuerwehr ab, Ader läuft zurück zur Großmarkthalle.

Hochgestapelte Paletten und wuseliges Treiben: Nachts lebt der Großmarkt / ©Johanna Zobel
Hochgestapelte Paletten und wuseliges Treiben: Nachts lebt der Großmarkt / ©Johanna Zobel
Hinter den massiven blauen Türen befinden sich die Kühlräume im Keller des Großmarkts / ©Johanna Zobel
Hinter den massiven blauen Türen befinden sich die Kühlräume im Keller des Großmarkts / ©Johanna Zobel

Elektrische Stapler

Vor dem Tor der Großmarkthalle zündet sich Ader eine Zigarette an. Es bleibt das einzige Feuer an diesem Tag. Grundsätzlich ist das Rauchen nur draußen erlaubt. Seit Beginn der Corona-Pandemie und der Maskenpflicht auf dem gesamten Gelände, gibt es neben den Toren extra angelegte Bereiche. Bis zur Aufhebung der Maskenpflicht Ende April 2022, durfte man nur auf den rot markierten Flächen rauchen. Ader drückt die Zigarette aus und läuft durch das blaue Tor zurück in die Halle. Nach ein paar Metern biegt er links ab zu einer geschwungenen Straße, die an eine Parkhausauffahrt erinnert. Diese führt zur Kellerseite-Süd hinunter, ein Zwischengeschoss. Mit flottem Schritt geht er die lange Straße entlang. Links befinden sich Parkbuchten, an denen einige elektrische Stapler ihre Akkus laden. Die Parkbuchten werden durch Leitplanken getrennt, die auch Pfosten und Wände umranden. „Die wurden angebracht, um Anfahrschäden zu vermeiden“, erzählt Ader lachend. Auf dem Weg in den Keller begegnet ihm ein Staplerfahrer mit strahlendem Gesicht und den grüßenden Worten: „Ach, du ahnst es nicht: Janniiii!“

Der Überblick im Chaos 

Im Keller befinden sich zahlreiche Kühl- und Lagerräume, die die Händler beim Großmarkt anmieten können. Außerhalb der massiven blauen Doppeltüren der Kühlräume wird die Temperatur in einem weißen Kasten angezeigt. Ader liest die Temperatur ab und vergleicht sie mit der Solltemperatur. Abweichungen von +3 oder -1 Grad seien in Ordnung, dann würden die Waren noch richtig lagern. Andernfalls wird der technische Betrieb informiert. Alle vier Stunden wird die Temperatur geprüft. Um den Überblick zu behalten, scannt Ader einen schwarzen Punkt nahe dem Kühlraum mit einem kleinen Stab. Dieser schwarze Stab, ein sogenannter Proxipen, erinnert optisch ein wenig an ein Elektroimpulsgerät. Bei der Prüfung läuft nicht immer alles reibungslos: „Dieser Kühlraum, Raum Nummer drei, ist laut unserer Liste ausgeschaltet. Der ist jetzt trotzdem in Betrieb und ich muss ihn kontrollieren. Dafür muss ich aber wissen, welche Temperatur der Raum haben soll. Außerdem waren alle Türen auf, das macht es schwierig“, sagt Ader. Er macht sich eine Notiz und prüft die restlichen Kühlräume im Keller. Weiter geht es durch mehrere Gänge, die nach Anbaugebieten aus Hamburg und dem Umland benannt sind, darunter der Bardowicker, der Marschländer und der Dithmarscher Gang. „Das sieht hier alles gleich aus, so ging es mir auf jeden Fall zu Beginn“, erinnert sich Ader. Nach zehn Jahren auf dem Großmarkt kennt er sich aber bestens aus.

Der Großmarkt Hamburg in den frühen Morgenstunden / ©Johanna Zobel
Der Großmarkt Hamburg in den frühen Morgenstunden / ©Johanna Zobel
Immer frisch: Obst und Gemüse auf dem Großmarkt / ©Johanna Zobel
Immer frisch: Obst und Gemüse auf dem Großmarkt / ©Johanna Zobel
Kistenweise Mango, Granatäpfel und Zwetschgen / ©Dirk Eisermann
Kistenweise Mango, Granatäpfel und Zwetschgen / ©Dirk Eisermann

Hart aber herzlich

Im zweiten Untergeschoss darf, anders als im Erdgeschoss, kein persönlicher Vor-Ort-Handel stattfinden. Dort befinden sich hauptsächlich Lieferdienste für Hotels, Restaurants und Cafés. Um die Waren mit dem Auto, Stapler oder Lkw problemlos zu befördern, gibt es große Tore und hohe Decken. Früher wurden die Tore noch über Ampeln gesteuert, heute gibt es Schnelllauftore, die sich automatisch öffnen. Wieder im Erdgeschoss angekommen, stürzt sich Ader ins Getümmel. Ein Stapler fährt gerade rückwärts ein. Ein Arbeiter neben dem Staplerfahrer ruft: „Achtung, Dame!“ Frauen sind hier selten. Der Großmarkt sei schon eine reine Männerdomäne, gibt Ader zu. Das bedeute aber nicht, dass nur ein rauer Ton herrsche. So bestätigt es auch der Händler Ralf Albers, bei dem es neben knackfrischen Möhren auch bunte Paprikas und saftige Grapefruits gibt. Albers ist schon seit mehr als 25 Jahren auf dem Großmarkt: „Das ist hier alles sehr kollegial. Wenn wir einander etwas zusagen, dann gilt das. Wir sind zwar alle Konkurrenten, aber können auch gut miteinander. Die Nachtarbeit schweißt zusammen.“ Das gute Miteinander zeigt sich auch in zufälligen Begegnungen. Ein vorbeifahrender Staplerfahrer ruft Ader lachend entgegen: „Mach das ordentlich, Jan!“ Ader schmunzelt. Flapsige Sprüche dürfen nicht fehlen. Sie sind Ausdruck von Kameradschaft, Wertschätzung, Gemeinschaftsgefühl. Auf dem Großmarkt ist es wie in einer großen Familie: Man kennt sich, schätzt sich und ist direkt. Der Großmarkt sei von Familienunternehmen bestimmt, wobei die Zugehörigkeiten nicht mehr so eindeutig seien. „Ich kenne Familien, da arbeitet der eine Bruder dort und der andere in einer anderen Firma“, sagt Ader.

Kurz vor halb sieben. Seine Schicht geht dem Ende zu. Während die Stadt langsam in die Gänge kommt, ist für ihn Feierabend.

Feierabend am Morgen

Auf dem Gelände ist weiterhin wuseliges Treiben: Mit Kisten beladene Gabelstapler fahren zwischen den Toren und riesigen Lkws hin und her. Obst und Gemüse wird be- und entladen. Einkäuferinnen und Einkäufer tragen Kisten mit frischen Kräutern zu ihren Transportern. Händler und Einkäufer unterhalten sich, lachen miteinander und treffen sich auf eine Zigarette vor der Halle. Ader schließt sich den Rauchern an, blickt auf das 27,3 Hektar umfassende Großmarktgelände. „Das waren mal 28,3 Hektar. Dann wurde der Radweg gebaut – der Elberadweg. Der Abschnitt wurde 2014 fertiggestellt. „Der Fahrradweg läuft direkt an der Wasserkante entlang und ist durch einen Zaun abgetrennt“, erzählt er. Der Standort am Wasser habe viele Vorteile, locke allerdings auch unerwünschte tierische Besucher an. Es wurden bereits Maßnahmen ergriffen, um Vögel und weitere ungeliebte Gäste fernzuhalten: zum Beispiel ein Falkner, der mit seinem Bussard kommt, die Schnelllauftore sowie ein giftfreies Schädlingsmanagementsystem, das digital überwacht wird. Manch einer schmuggelt sich dennoch aufs Gelände: „Wir hatten letztes Jahr im Winter eine Nutria hier. Die sieht aus wie ein riesengroßer Biber“, erinnert sich Ader. „Das Tier hatte sich zwischen den Tannenbäumen versteckt. Wir haben es mit einer Kiste gefangen und draußen ausgesetzt.“ Ob Feuerwehreinsätze oder Nutrias – Jan Ader hat alles im Blick, was den geregelten Ablauf stören könnte. Kurz vor halb sieben. Seine Schicht geht dem Ende zu. Während die Stadt langsam in die Gänge kommt, ist für ihn Feierabend. Auf dem Großmarkt ist aber noch lange nicht Schluss: Hier ist immer jemand, rund um die Uhr, an jedem Tag. Am Abend ist Jan Ader wieder da und wacht über das Geschehen – mit offenen Augen.

Portrait von Johanna Zobel

Johanna Zobel ist immer für ein ausgiebiges Abendessen mit Freunden in gemütlichen Restaurants zu haben. Ein perfekter Abend endet für sie mit einem Absacker in einer typischen Hamburger Eckkneipe.