Manchmal lohnt es sich, Wege abseits der großen Straßen zu nehmen. Wer am Diebsteich einen Blick in den Hinterhof eines Steinmetzbetriebes wirft, findet derzeit noch einen fast schon magischen Ort aus Glas und Stahl vor. Verwildert und verwunschen stehen sie dort: die alten Gewächshäuser, die einst von der benachbarten Friedhofsgärtnerei betrieben wurden. Einige der vergilbten Scheiben schimmern irisierend in Regenbogenfarben, wenn das Licht auf sie trifft; im Inneren ist die Natur dabei, sich den Raum zurückzuerobern. In diesem Zustand entdeckt auch Flavio Mancuso vor eineinhalb Jahren das Areal bei einem seiner Streifzüge durch die Stadt und ist sofort fasziniert. „Diese Gewächshäuser sind in perfektem Zustand“, denkt er.
Zirkuläre Architektur gegen CO2-Emissionen
Doch der Architekt und Stadtplaner weiß von den Bebauungsplänen rund um den neuen Fernbahnhof Altona und das Quartier am Diebsteich, dem die Glashäuser weichen müssen. Bald schon sollen die Bagger anrollen. Also kontaktiert Flavio den Grundstückseigentümer Tom Cornils und legt ihm eine Präsentation seines Architekturbüros Borneo Architecture vor. Seine Vision: Eines der Gewächshäuser soll abgebaut und an anderer Stelle – einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Parkhausdach – wieder aufgebaut werden. Zirkuläre Architektur nennt sich der Vorgang, wenn bereits genutzte Rohstoffe nicht zu Abfall werden, sondern der Weiterverwertung und dem Wiederaufbau dienen. „Viele Architekturbüros planen neue Projekte und fragen sich nicht, woher die Materialien kommen“, erklärt Flavio. „Dabei ist der Bausektor für fast 40 Prozent der CO2-Emissionen weltweit verantwortlich“, fährt er fort und bezieht sich dabei auf einen Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2020. Dessen Fazit: Die Baubranche hat sich von den im Pariser Klimaschutzabkommen festgelegten Zielen weiter entfernt anstatt sich anzunähern …
Die Greenhouse Gang kommt zusammen
Lange Zeit passiert nichts, dann kommt im Dezember 2022 überraschend eine Antwort des Besitzers: Die Materialien des Gewächshauses dürfen abgebaut und weiterverwendet werden. Doch zu diesem Zeitpunkt sind es nur noch wenige Monate bis zum Abriss. Weil Flavio und seine Freundin Paula Iniesta Rudolph wissen, dass sie diese Aufgabe zu zweit unmöglich bewältigen können, mobilisieren sie ihren Freundeskreis und beginnen über Instagram helfende Hände für den Abbau zu suchen. Die Initiative Botanica Urbana ist geboren – und findet direkt großen Anklang. Plötzlich reposten auch Unbekannte die Aufrufe der beiden auf Instagram. Die eigens für das Projekt erstellte Telegram-Gruppe zählt nach einigen Wochen fast 350 Mitglieder. „Wir haben mit 18 Leuten aus unserem Bekanntenkreis angefangen, bei denen wir dachten, dass sie Lust drauf haben könnten – und innerhalb von sechs Stunden waren plötzlich 200 Personen in der Gruppe“, berichtet Paula begeistert.
Das erste Wochenende geht dafür drauf, um das zugewucherte Gewächshaus von Pflanzen zu befreien, danach beginnt der eigentliche Abbau. Schnell entwickelt sich eine Gruppendynamik, ein harter Kern von zehn bis 15 Leuten ist fast immer dabei, um zu helfen. Auch für diejenigen, die handwerklich unerfahren sind, gibt es genug zu tun. „Wir finden immer Aufgaben: Pläne machen, Sachen beschriften, Glasplatten in Boxen verpacken“, so Paula. Dabei entstehen nicht nur Arbeitsbeziehungen, sondern neue Freundschaften. „Wir haben so viele coole Leute getroffen, jemand hat uns sogar maßgefertigte Boxen gezimmert, um die Glasscheiben zu lagern“, erzählt die Sozialökonomie-Studentin. Auch von Unternehmen aus der Umgebung gäbe es Unterstützung in Form von Holz- und Palettenspenden.
Ein Gewächshaus soll hoch hinaus
Nach sechs Wochenenden Arbeit haben es Flavio, Paula und die restliche Greenhouse-Gang im März 2023 geschafft. Das in seine Einzelteile zerlegte Gewächshaus kommt nun vorerst in ein Lager, wo es bleiben darf, bis Botanica Urbana einen geeigneten Ort gefunden hat, um es wieder aufzubauen. Dafür steht die Initiative bereits mit einigen Bezirksämtern und verschiedenen Projekten wie obenstadt in Kontakt. Ihre Wunschvorstellung: Über den Dächern der Stadt soll noch in diesem Jahr ein Kulturort und Gemeinschaftsgarten mit angrenzendem, für verschiedene Gruppen offenem Pop-up-Restaurant und -café entstehen. In der dazugehörigen Küche wird das angebaute Gemüse direkt weiterverwendet – und so das Konzept der zirkulären Architektur mit ihrer Planung in Kreisläufen erneut aufgegriffen. „Alles, was vor Ort ist, bleibt vor Ort, wir wollen Architektur ohne CO2-Ausstoß machen“, erklärt Flavio. Seine Freundin Paula ergänzt: „Und zusätzlich CO2 kompensieren, indem wir einen grünen Ort schaffen, der das Stadtklima ein bisschen abkühlen kann.“
Wichtig für die beiden: Ihr Projekt soll in der Hand der Community bleiben – ein Investor, der Geld vorstreckt und dann mitbestimmen möchte, kommt für sie nicht infrage. „Das kann für viele Leute ein kleiner Hoffnungsschimmer sein, gerade in einer sehr wohlhabenden Stadt wie Hamburg, wo sich Möglichkeiten erst auftun, wenn man genügend Kapital hat“, meint Paula. Botanica Urbana ist dafür umso mehr auf Spenden angewiesen, denn die Kosten für den perfekten Wiederaufbau und die Einrichtung des Gewächshauses schätzen die beiden auf etwa 80.000 Euro. Dafür haben sie eine Crowdfunding-Kampagne auf gofundme ins Leben gerufen. Bislang sind dort rund 1.700 Euro des deklarierten Ziels von 10.000 Euro zusammengekommen. Dem Promoten ihres Crowdfundings wollen sich Paula und Flavio nun verstärkt widmen, nachdem der Abbau abgeschlossen ist. Ihre Standort-Favoriten für das Gewächshaus? Das Mercado-Parkdeck, das Dach vom IKEA Altona und das Gebäude der ehemaligen Karstadt-Filiale in der Osterstraße stehen hoch im Kurs. „Ideal wäre eine Fläche, wo auch draußen noch Platz ist, wie in einem Park 2.0“, sagt Paula. Ins gläserne Gewächshaus kommen dürfen dann alle, nicht nur diejenigen, die dort etwas kaufen und verzehren – ein im wahrsten Sinne des Wortes offener Ort.